APNOEA

Für einen kubanischen Künstler wie Leonardo Gutiérrez schien es unvermeidlich, dass Meer und Skulptur eines Tages an einem entscheidenden Punkt seines Lebensweges aufeinandertreffen würden. Und anscheinend war es die Frage „Wohin gehen wir?“ -wesentliche Überlegung seiner Generation- die ihr Treffen veranlassen sollte. Ebenso unvermeidlich schien es, dass die fruchtbare Umarmung von Skulptur und  Meer gerade eine „dunkle Kammer“ zur Hochzeitskammer erwählte: ein Ort magischer Transformationen, in dem aus der Umkehrung des „Oben“ und „Unten“ das fotografische Abbild wie eine Luftspiegelung zum Vorschein kommt.
Der Künstler taucht ins Meer ein und eine Geschichte kommt zum Vorschein. Das Papier versinkt in der Lösung und eine Szene erscheint. Das Licht graviert das Bild, dass der Bildhauer in der Tiefe aussät…
Hinter dem Horizont kommt ein anderer Horizont; nach dem Morgen, ein Übermorgen; ein Übersee jenseits der See. Für Leonardo Gutiérrez stimmt die Erforschung eines Jenseits der Skulptur überein mit der Suche nach einem „anderen Ufer“ in der Geschichte. In beiden wagt man sich bis an die letzte Grenze vor, an der das Feste ätherisch wird, die Realität Fiktion und die Geschichte eine poetische Möglichkeit. In seinem Universum ist das Wasser das letzte irdische Abenteuer der Wolke; die Fotografie das Negativ einer auf dem Morast der Zeit geformten Skulptur…
Das strahlende Profil eines Gesichtes deutet sich plötzlich zwischen den Wellen an, dann eine Hand. Das verschneite Rückgrat einer Gebirgskette erhebt sich über dem Gewässer, um augenblicklich in phosphoreszierenden Tauperlen zu verschwinden. Und viele weitere vergängliche Kreationen, geformt durch die Spontaneität des flüssigen Elements, die nur das Aufleuchten des Lichts für immer auf dem Foto festhält, wie ein Blitz auf der Netzhaut des Bildhauers.
Leonardo Gutiérrez ist nicht umsonst auf einer vom Meer geformten Insel geboren: Dort lernte er mit den Wellen auf den Riffen zu meißeln.
Die Fotografie verrät uns nun, was wir als kreativen Puls in jedem seiner Werke spürten: den Herzschlag des Meeres im Marmor, die rebellierenden Wogen, die darum kämpfen nicht mehr marmorn zu sein. Sein warmer Humor lässt jedoch, mit der Freundlichkeit einer zarten Meeresbrise, die uralte, bildhauerische Erhabenheit der Statuen verdunsten. Es gibt keinen Groll in seinem Übergang von der Schwere zur Leichtigkeit: Die Fotografie verwandelt die Skulptur wie das Kirchenfenster den Stein, ohne die Kohärenz seiner kathedralischen Solidität zu beeinflussen.
Die Skulptur, die Fotografie und das Meer bilden ein Dreieck, welches seinem Gesamtwerk die Pracht einer gotischen Kathedrale verleiht, aufgerichtet auf dem Ozean, zwischen der Zeit und der Ewigkeit. Das Meer schafft ein Intervall ekstatischer Entfernung: mit seiner Allgegenwart unaufhörlich gleichlaufender Strömung, mit seiner eifrigen Parallelität eines Schaukelstuhls, der die Ängste einer starren Gegenwart auf der Wippe der Beharrlichkeit verjagt. Die Skulptur drückt sich auf dem Foto flach, um dem Dokument die Tiefe der Illusion einzugraben. Die Fotografie beleuchtet die Legende mit dem Glanz klarer Gegenwart, die die Geschichte vor ihrem Schiffbruch birgt und rettet das Ideal vor der tautologischen Transparenz eines versunkenen Fischglases, verwandelt in eine archäologische Reliquie, auf immer vergessen im Reliquienschrein der Erinnerungen.

Gustavo Pita Céspedes
Barcelona, 11. Juni 2013

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